Mehr Vielfalt im Gemüsebeet: Garten-App alphabeet setzt sich für den Erhalt alter Sorten ein
Stuttgart 3.02.22 - Durch die Industrialisierung der Landwirtschaft wird immer leistungsfähigeres Saatgut gezüchtet. Gleichzeitig droht ein Großteil unserer historischen Sortenvielfalt verloren zu gehen. Zum Start der Gartensaison macht sich die Beetplanungs-App alphabeet deshalb für den Erhalt der Kulturpflanzenvielfalt stark. Das Nachhaltigkeits-Startup widmet dem Thema im Februar besondere Aufmerksamkeit und stellt alte, samenfeste Sorten in den Vordergrund.
„Es ist bereits fünf vor zwölf“, so beschreibt Patrick Kaiser die Situation. Kaiser ist Geschäftsführer des Sortenerhaltungs-Netzwerks Genbänkle e.V. und Pflanzenzüchter der Initiative Tatgut. „In Mitteleuropa sind mittlerweile 75 bis 90 Prozent der Gemüsesorten, die in den letzten Jahrhunderten kultiviert wurden, verschwunden. Die alten Sorten sind Teil unseres Kulturguts“, sagt Kaiser, „diese Vielfalt muss geschützt werden. Auch um den Genpool der bewährten Nutzpflanzen für künftige Züchtungen zu erhalten und Herausforderungen wie den Klimawandel zu bewältigen”.
Die Gründe für den Verlust der Sortenvielfalt liegen vor allem in der Industrialisierung der Landwirtschaft. Es werden verstärkt Hochleistungssorten gezüchtet, die z.B. auf hohen Ertrag und Lagerfähigkeit optimiert sind. Meistens handelt es sich um so genannte Hybridsorten, die die Vorteile verschiedener Saatgutsorten miteinander vereinen, aber selbst wiederum keine neue Samen mit denselben Eigenschaften erzeugen können. Landwirt:innen müssen also jedes Jahr neues Saatgut kaufen, meist von großen Saatgutkonzernen. Samenfeste Sorten hingegen, aus deren gewonnenen Samen wieder eine neue Generation von Pflanzen mit denselben genetischen Eigenschaften erwächst, spielen im professionellen Gemüseanbau kaum mehr eine Rolle. Auch Vielfalt in Geschmack, Farbe und Form ist im Handel weniger gefragt, manchmal sogar eher von Nachteil, z.B. was einheitliche Verpackung betrifft.
Was von den Äckern weicht, ist im Privatgarten begehrt
Während auf den Feldern unserer Landwirt:innen genetische Vielfalt langsam verloren geht, sind Privatgärten ein Ort, an dem alte Sorten weiterhin kultiviert werden. Schließlich haben Hobbygärtner:innen oftmals andere Anforderungen an ihre Sorten als der Lebensmitteleinzelhandel. Ihnen sind der Erhalt historischer Sorten und die eigene Saatgutgewinnung ebenso wichtig wie das Anpflanzen von Raritäten. Katharina Görges aus dem Ruhrgebiet gehört zu den Gärtner:innen, die auf alte Sorten schwört. Die Künstlerin und Biologin baut schon seit ihrer Jugend ausschließlich samenfeste Gemüsesorten an und vermehrt ihr eigenes Saatgut. “Auf diese Weise kann ich unabhängig von Großkonzernen bleiben”, so Görges. “Ökologisch betrachtet bieten alte Sorten und auch der dezentrale Nachbau die Chance, genetische Vielfalt zu erhalten und zu schaffen. Diese Diversität ist wiederum der Grundstein für Resilienz angesichts des unvermeidbaren Klimawandels”. Sogar ihre Masterarbeit an der TU Dortmund hat Katharina Görges dem Thema alte Sorten gewidmet: ”Sie bringen durch ihre Vielfalt eine unglaubliche Schönheit in den Garten. Zudem zeichnen sie sich oft durch ihre Robustheit und ihren besonderen Geschmack aus.”
Auch Dr. Thomas Gladis, Biologe, Ökologe und Kulturpflanzenforscher vom Verein Acker e.V., schreibt Privatgärten eine wichtige Rolle beim Sortenerhalt zu: “Die Züchter verdienen nur an ihren neuen Sorten und wollen diese morgen schon wieder verwerfen, um mit noch besseren die Märkte zu fluten. Die alten Sorten hingegen werden Jahr für Jahr in privaten Gärten angebaut, sorgfältig selektiert, bonitiert und zur Samengewinnung nachgebaut. Sie passen sich auf diese Weise einer sich verändernden Umwelt und dem Klima an.”
“Wikipedia für Pflanzen”: Die offene alphabeet-Sortenbibliothek
Katharina Görges, Patrick Kaiser und Thomas Gladis stehen mit ihrer Begeisterung nicht alleine da. Dass Vielfalt wieder voll im Trend liegt, spüren auch die Betreiber:innen der Garten-App alphabeet. Etwa 3.000 Sorten sind in der alphabeet-Pflanzenbibliothek bereits gespeichert und mit vielen Informationen zu Herkunft und Aussaatdaten abrufbar, Tendenz steigend. “Da alle Nutzer:innen der App eigene Sorten zur offenen Datenbank veröffentlichen können, kommen täglich neue Sorten hinzu. Dass so viele Gärtner:innen mithelfen, gemeinsam eine große Sortendatenbank aufzubauen, zeigt wie groß die Relevanz und das Interesse in der Gemeinschaft ist”, so Marlene Hirschfeld vom alphabeet-Team. “Es ist wie ein Wikipedia für Pflanzen. Darin können die Gärtner:innen immer wieder Sorten entdecken und sich inspirieren lassen, um mehr Vielfalt in ihre Beete zu bringen.” Der Beetplanungs-Algorithmus von alphabeet unterstützt sie dann bei der optimalen Mischkulturplanung: Die Pflanzen werden mit Hilfe der Funktion “Zauberstab” optimal in den eigenen Beeten angeordnet, denn günstige Pflanznachbarschaften begünstigen den Ernteerfolg. Bei Fragen oder Problemen können sich die Nutzer:innen auf das Wissen der alphabeet-Community aus 100.000 Gärtner:innen verlassen. Da bleibt kaum eine Frage unbeantwortet.
Tipps für Sortendetektiv:innen
“Durch den Kauf von samenfestem Saatgut kann man nicht nur besondere Sorten im Garten erhalten und durch Nachbau an den Standort anpassen, sondern auch bares Geld sparen”, empfiehlt Katharina Görges. Bei der Sortenauswahl sollte man darauf achten, dass sie für den eigenen Standort gut geeignet sind. Saatgutbörsen sind eine gute Möglichkeit, um alte und samenfeste Sorten zu bekommen und zu tauschen. Auch Patrick Kaiser organisiert solche Saatgutmärkte und setzt sich für den Erhalt der Kulturpflanzenvielfalt ein. Und er ruft dazu auf, ‘Sortendetektiv:in’ zu werden: „Wer historische Sorten im Garten oder Kisten mit altem Saatgut findet, sich an alte Sortennamen und Geschichten erinnert und sich bei unserem Verein Genbänkle meldet, kann helfen diese Sorten zu retten.“
Ab 4.2. werden alte Sorten in der alphabeet-App (bald "Fryd") zwei Wochen lang in den Mittelpunkt gestellt. Im Rahmen der Kampagne gibt es hilfreiche Tipps rund um den Anbau alter Sorten, wie z.B. eine eigene Podcast-Folge, diesen Leitartikel und ein Saatgut-Set. So will man auf das Thema aufmerksam machen und die gesellschaftliche und ökologische Relevanz hervorheben.
“Alte Sorten sind erprobte und bewährte integrale Bestandteile einer bäuerlichen Agrikultur”, meint Dr. Thomas Gladis. “Als lebendiges kulturelles Erbe der gesamten Menschheit, hängt unsere Existenz noch immer von ihrem Überleben ab. Auch wenn uns das nur selten bewusst wird.” Dem stimmt auch Patrick Kaiser zu: “Eigentlich müsste man nicht nur Kunst und alte Gebäude unter Denkmalschutz stellen, sondern auch historische Pflanzensorten.”
Weiterführende alphabeet-Links:
https://alphabeet.org/magazin/alte-sorten-uebersicht
Initiativen zur Erhaltung alter Sorten: